Ingeborg Kraft: Die Kapelle St. Jodokus in Schwäbisch Hall 

(Mit Ausschnitten der Aufsätze von Eduard Krüger im Haalquell Januar 1961 und von Dr. Ulshöfer.)

Die Gelbinger Vorstadt breitet sich auf jener schmalen, flachgeneigten Ebene aus, die nach dem großen Bergrutsch der Keltenzeit zwischen dem Steilhang des Galgenberges (Friedensberg) und dem Absturz zum Kocher entstand. Der Untergrund besteht aus Geröllen, vermischt mit durcheinandergeworfenen Muschelkalkfelsen, die um 150 n. Chr. vom Galgenberg niedersausten. In langen Kurven fließt die Gelbinger Gasse dahin, Man kann zwei Abschnitte unterscheiden: der südliche, stärker gekrümmte, reicht bis zum Josenturm mit der angebauten Josenkapelle (Haus Gelbinger Gasse 39), wo ein Weg zum Erkenbad und zu den drei Mühlen abzweigt; der nördliche ist sanfter geschwungen, er ist doppelt so lang wie der Südabschnitt. Der imposante Josenturm unterteilt also den Straßenzug in dem städtebaulich schönen Verhältnis 1 : 2.

Abb.: Grundriss von St. Jodokus

Die westliche Stadtmauer der Gelbinger Vorstadt stößt ganz unorganisch auf die Kapelle; sie endigt mit Fugen an Gotteshaus und Turm. Die Mauer beschirmt also die Kapelle nicht.

Wäre die Kapelle erst nach der Ummauerung von 1324 erbaut worden, so hätte an dieser Stelle der Wehrgang nicht unterbrochen zu werden brauchen, was man stets ungern in Kauf nahm. Die Kapelle bestand also schon vor der Erbauung der Gelbinger Vorstadt.

Sie wurde sinnvoll an jener Stelle im freien Felde errichtet, da von der Gelbinger Landstraße ein Weg ins Tal abzweigte. An dieser Landstraße standen wohl schon sehr früh in lockerer Anordnung einige Häuser. Erst später verdichteten sie sich zur geschlossenen Straßenzeile. Johann Herolt schreibt um 1545: es stand die "Sant Josz capell in Gelbinger gassen in der vorstatt, die dazumal noch nit umbmauert ist gewesen". Turm und Kapelle bilden eine bauliche Einheit. Sie sind zu gleicher Zeit entstanden. Jeder Verteidigungscharakter fehlte.

Abb.: Rekonstruktion der Jodokus-Kapelle im Zustand um 1250.
Die Gelbinger Vorstadt war noch nicht vorhanden.

Die ursprüngliche Höhe des Turmes scheint bloß halb so groß gewesen zu sein als heute. Denn nur bis zur Mitte des Steinschaftes mit Buckelquadern reichen Versetzzeichen in den Eckquadern. An der Turmecke 1 hören in halber Höhe die Sandsteinquader auf, es folgen plötzlich solche aus Muschelkalk. Auch hier finden sich keine Versetzzeichen mehr. Der Turm war auf alle Fälle schon ursprünglich höher als das Kapellenschiff, denn seine Mauern sind dicker und konnten daher größere Lasten tragen. Die obere Turmhälfte dürfte also um 1570 aufgebaut worden sein. Die Fenstergewände müssen in diese Zeit verwiesen werden. Da um 1570 auch ein (offenbar nur ein Stockwerk hohes) Fachwerk aufgesetzt wurde, so hatte der Turm um diese Zeit fast das heutige Ausmaß und die heutige Gestalt.

Abb.: Die Entwicklung der Chorseite

Beim Brand 1680, als fast die ganze Gelbinger Gasse niederbrannte, wurde auch der Josenturm bis auf die Steinmauern zerstört. Das Brandbild von 1680 gibt den steinernen Turmschaft in der heutigen Höhe wieder.

Abb.: Gelbinger-Vorstadt nach dem Brand: eine Stätte der Verwüstung.

1686 erfolgte der Wiederaufbau des Turmes, das Fachwerk ist nun zweistöckig geworden. So steht er heute noch da. In den beiden Fachwerkgeschossen waren bis ins 19. Jahrhundert die Wohnungen des Türmers und des Nachtwächters eingerichtet.

Der Turm enthielt ursprünglich den Chor der Jodokuskapelle. Es bestand also ein sogenannter Turmchor. Die jetzige Wand zwischen Kapellenschiff und Chor ist erst später eingesetzt worden, denn eine deutliche Fuge trennt sie vom älteren Mauerwerk. (Es besteht heute noch in jedem Stockwerk eine, teils zugemauerte Türe in den Turm. I. Kraft)

Die ehemalige Kirche ward spätestens 1582 zur Wohnung des Büchsenschmiedes Sebastian Kreß umgewandelt. 1655 richtete man die Buchdruckerei des Hans Reinhard Laidig ein. Nach dem Brand von 1680 wurde im Gebäude eine der sechs "Teutschen Schulen" untergebracht. Im Chor läuft auf drei Seiten eine Mauerverdickung in 2,15 m Höhe hin. Dies dürfte ein Kreuzgewölbe aufgenommen haben, das jedoch keine Rippen besaß, denn deren Ansätze fehlen.

Im Untergeschoß des Chores liegt ein mit einer Flachtonne überspannter Raum, der ein Fenster nach Westen besitzt. In dieser Tonne ist ein Einstiegsloch zu erkennen, das das kellerartige Gelaß zugänglich machte. Beim Jodokus-Chor mußte, wie bei St. Michael, der Zwischenraum bis zum guten Baugrund durch ein Fundamentsstockwerk überwunden werden. Das Untergeschoß ist jetzt durch eine Treppe vom Schiff aus zugänglich. Dieser Eingriff geschah wohl vor 1582, um der Wohnung des Sebastian Kreß einen Keller zu verschaffen. (In diesem Keller standen noch in meiner Jugendzeit die großen Weinfässer meines Großvaters, des Küfers August Häfner. I. Kraft) Der Chor war einst nur vom Schiff aus erreichbar; das beweist, daß er geistlichen Zwecken diente. Die heute von der Straßenseite her eingebrochene Türe ist ganz jung. Ehemals erreichte man die oberen Stockwerke des Turmes über eine schmale Außentreppe durch eine Pforte in 2,50 m Höhe. Dieser Eingang besitzt auch ein hübsches Oberlicht, die Türe ist jetzt zum Fenster verändert.

Der eigentliche Kapellenraum, das Schiff, war mit einer flachen Holzdecke versehen. Er ist 6,34 m breit und 9,80 m lang. Seine alten Fenster sind verschwunden; im 16. Jahrhundert brach man auf der Westseite neue ein und legte auf der Gassenfront das heutige Rundbogentor an. Die drei Fenster im Oberstock der Straßenwand stammen aus dem Jahre 1760. Auf der Nordseite des Schiffes ist, nahe der Ecke, eine spitzbogige, also gotische Eingangstüre erhalten geblieben. Sie rührt vom Umbau des Jahres 1397 her. Sechs Jahre nach dem Brand entstand das heutige wunderschöne Fachwerkgeschoß über der Kirche. Es ist bezeichnet mit "DD ON 1686"

Abb.: Ansicht vom Badtorweg.

Wie verlief die Geschichte der Kapelle St. Jodokus?

Der Chronist Johann Herolt berichtet: "diese capell hatt ein alt rittermäßig geschlecht, die Schnewasser genant, mitsambt derselben pfrundt gestifftet." Bei Haußer entsteht die Kapelle 1379, sie soll jedoch eine Vorgängerin gehabt haben. Am 3. Januar 1397 bestätigen Abt Erkinger Feldner von Komburg und der Pfarrer Walther von Schwäbisch Hall, daß "Sifrid genannt Snewasser", Bürger von Hall, verschiedene Einkünfte zur Ausstattung des Altars der Heiligen Jakob und Jodokus in der "neu erbauten Kapelle in der Geilwinger Gasse" schenkte. Der Ausdruck "de novo" (d. h. von neuem) muß so verstanden werden, daß zuvor jener andere Bau vorhanden war, von dem die jetzigen Buckelquader stammen. Der Umbau von 1397 benützte also den alten Grundriß und die alten Mauerteile von 1250. Das Schiff hatte 1397 die Höhe des heutigen Steinteiles, der Turmchor schloß etwa dort ab, wo die Versetzzeichen aufhören.

Als Heilige der Kapelle werden St. Jakobus und St. Jodokus genannt.

In der Kunst wird Jakob mit den Attributen Buch, Pilgergewand, Reisetasche, Pilgermuschel, Wasserflasche und Pilgerstab dargestellt. Jodokus (auch St. Jost, St. Joß oder St. Josen genannt) war ein britischer Fürst, der das Christentum annahm, als Einsiedler lebte und 669 starb. Es ist auffallend, daß sowohl Jacob als auch Jodokus in enger Verbundenheit mit dem Pilgerwesen standen. Die Gelbinger Gasse wurde zweifellos von durchziehenden Pilgern benützt.

Den Kult eines weiteren Heiligen in der Jodokuskapelle konnte Wilhelm Hommel 1956 nachweisen. Denn der oben erwähnte Büchsenschmied Sebastian Kreß mußte 1582 Steuern "an St. Oßwald zu St. Josen" bezahlen. Damit steht fest, daß auch St. Oswald in unserem kleinen Gotteshaus verehrt wurde.

Oswald war König von Northumberland und führte das Christentum in seinem Lande ein. 604 beschloß er sein Leben. Schottenmönche brachten seine Verehrung nach Deutschland. Auch das Kloster Komburg gründete 1156 eine Oswaldkirche mit Spital. Wahrscheinlich barg die Kapelle drei Altäre: den Hauptaltar im Chor und zwei kleinere Nebenaltäre beiderseits des Triumphbogens. Das ist eine im Mittelalter übliche Ausstattung.

Abb.: St. Josen Kapelle, später Catechet-Schule, "Küfer Häfners Haus", heute als Josenturm in der Gelbinger Gasse bekannt. Um 1880.

Das heutige malerische Aussehen des Josenturmes und des anschließenden Wohnhauses lässt kaum mehr erkennen, daß sie ursprünglich kirchliche Bauwerke waren. Das Jodokus-Gotteshaus hat keine große Rolle im althällischen Kirchenleben gespielt. Für die Stadtentwicklung jedoch gibt die Baugruppe wertvolle Aufschlüsse. Sie bilden den einzigen städtebaulichen Höhepunkt der Gelbinger Vorstadt.

Heute stehen der Josenturm und das dazugehörige Haus unter Denkmalschutz, ein imponierendes Zeugnis althällischer reichsstädtischer Geschichte.

Ingeborg Kraft (2003)


Nachgefügt noch ein Bild vom großen Stadtbrand 1728 (von Opa Häfner)

Abb.: 1728: Vierhundert Häuser fielen dem Brand zum Opfer.

Im Museum in Hall hängt dasselbe Bild mit der Unterschrift: "Radierung von A. Nunzer, Nürnberg, nach einer Zeichnung von Johann Philipp Meyer, Hall, 1728."

Und da sich die neuen Tage
aus dem Schutt der alten bauen
kann ein ungetrübtes Auge
rückwärts blickend vorwärts schauen


(Im Kloster Admont/Steiermark gelesen)


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